Jamais vu
Explosive Welt-, Fiskal- und Geldpolitik
Wie kann man die Wirtschaft unterstützen, wenn man sie wegen Corona gleichzeitig bremst? Eine schier unlösbare Aufgabe. Die USA versuchen, die Konsumenten direkt zu unterstützen. In Europa werden die Menschen mit Krediten und Zuschüssen in Brot und Arbeit gehalten. Der Trend zu mehr Staat nimmt Fahrt auf.
Weder Fiskal- noch Geldpolitik können in der aktuellen Phase die Antwort für neues Wachstum sein. Was kurzfristig dem Strukturerhalt hilft, gefährdet langfristig den Wohlstand. Man kann nur hoffen, dass sich das Virus abschwächt oder bald eine Impfung verfügbar sein wird.
Möglichst Vollbeschäftigung
Im Kern will jeder Staat möglichst vielen Menschen einen Arbeitsplatz ermöglichen. John Maynard Keynes setzte dazu bei der Steuerung der Wirtschaftszyklen über staatliche Ausgabenpolitik an. Als das in den 70er-Jahren nicht mehr funktionierte – sowohl Inflation wie Arbeitslosigkeit waren hoch –, fokussierte die US-Notenbank unter Paul Volcker auf eine tiefe und stabile Inflation. Sie sollte die Voraussetzung für eine effizientere Wirtschaft bilden. Nicht mehr Gleichheit der Einkommen war das Ziel, sondern Effizienz. In der Folge lag der Fokus für die Steuerung des Wirtschaftswachstums auf den kurzfristigen Zinsen, nicht mehr auf der Fiskalpolitik. Doch seit der Bankenkrise 2008 funktioniert auch das nicht mehr und jetzt kam noch das Coronavirus.
Steht Fusion von Fiskal- und Geldpolitik bevor?
«Jamais vu» kann für etwas Bekanntes stehen, das völlig neu empfunden wird. Eine definitive Einordnung ist noch nicht möglich. Wir befinden uns mitten in einer Reflexionsphase mit Meinungswettbewerb. Einige wollen weitermachen wie bisher: Die Zentralbanken sollen weiterhin Geld drucken und Wertschriften auf die eigene Bilanz nehmen (QE). Andere rufen nach expansiver Fiskalpolitik in Form von Ausgabenerhöhungen oder Steuersenkungen: Diese Massnahmen sollen durch Schulden, welche die Zentralbank mit Nullzinsen ermöglicht, finanziert werden. Die Progressivsten wiederum rufen nach Abschaffung von physischem Geld: Sie wollen eine Digitalwährung, damit man die Zinsen viel stärker ins Negative drücken kann.
Geld taugt nicht zur Wertaufbewahrung
Aktuell bewegen wir uns in die zweite Kategorie und die Vorbereitungen laufen für den dritten Weg. So z.B. in China, aber auch in Europa gibt es solche Ideen. Kein Wunder, dass Edelmetalle angesichts dieser Entwicklung hell leuchten. Geld funktioniert als Zahlungsmittel und als Wertmassstab zwar sehr gut. Doch wird die Wertaufbewahrungsfunktion zugunsten von System- und Strukturerhaltung geopfert.
Gibt es Analogien zu früher?
1918 wurden Arbeiter im Ruhrgebiet für ihren Widerstand gegen die Franzosen mit neu gedrucktem Geld bezahlt. Geld ohne Leistung – es folgte eine Hyperinflation. Damals waren Produktionskapazitäten allerdings knapp, heute herrscht praktisch nirgends Knappheit. In der Depression ab 1929 wurde ebenfalls eine stark expansive Geld- und Fiskalpolitik betrieben. Erst Jahre später folgte der Inflationsdruck, welchem man mit Preiskontrollen begegnete. In den 70er-Jahren führte die akkommodierende Geldpolitik zur Stagflation. Das scheint wieder möglich, v.a. dann, wenn sich die Welt in Blöcke aufteilt und die Fiskal- und die Geldpolitik fusioniert werden.
Die Analogie zu 2000 liegt am ehesten bei den stark gestiegenen Technologieaktien. In der Dotcom-Bubble wurden Tech-Werte zu irrsinnig hohen Kursen gehandelt. Es gab dazumal aber mehrere Alternativen bei der Geldanlage, z.B. Immobilien und Anleihen mit 5 % Zins. Gerade der weitverbreitete Glaube, dass die Digitalisierung alles ändert, erinnert an die Tech-Blase.
2008 ist keine gute Analogie. Damals kollabierte die übermässig ausgereizte Finanzwelt, was die Realwirtschaft in Mitleidenschaft zog. Weltweit rauften sich die Behörden zusammen, um die Probleme zu lösen.
2020 ist es genau umgekehrt. Die hocheffiziente, globale Wirtschaft wurde durch die Corona-Massnahmen getroffen; mit Auswirkungen auf die Finanzwelt. Und von globaler Zusammenarbeit kann keine Rede mehr sein.
Kommt ein Crash?
Zugegeben: Nach dem starken Einbruch im Frühjahr haben sich die Aktienbörsen überraschend schnell erholt. Immerhin unterscheiden die Aktienmärkte stark zwischen Wachstumstiteln, stabilen Unternehmen und zyklischen Industrieunternehmen. Aus der Tech-Euphorie der 90er-Jahre wissen wir: Sollte sich die digitale Welt nicht so rosig entwickeln wie erwartet, werden ihre Aktien korrigieren und auch Nichttechnologietitel in Mitleidenschaft ziehen. Nicht alle Aktien sind teuer – im Gegenteil. Aus Gesprächen mit Firmenlenkern wissen wir, dass gerade Unternehmen im nichtdigitalen Bereich vorsichtig in die Zukunft blicken. Ihre Kapazitäten werden eher ab- als ausgebaut und Projekte verschoben. Wenn die Pandemie vorbei ist, wird das der Boden für eine gute Zukunftsentwicklung sein.
Resilienz und Handlungsfähigkeit
In einer derart unsicheren Zeit taugen herkömmliche Risikomassstäbe wie z.B. Volatilität wenig. Resilienz ist nun gefragt: Auch schwierige Marktverhältnisse sollten ohne anhaltende Beeinträchtigungen überstanden werden können. Unternehmen ihrerseits ergänzen effiziente «Just in time»-Lieferketten mit «Just in case»-Kapazitäten. Für Anleger bedeutet Resilienz, jederzeit die Handlungsfähigkeit zu bewahren. Dabei stehen die Verpflichtungen im Vordergrund. Wir raten zu möglichst wenig Fremdkapital und zu 2 Jahren Cash-Vorrat für den Lebensunterhalt. Jetzt, wo die Aktienmärkte trotz schwacher Realwirtschaft auf Jahresanfangsniveau notieren, wären sogar 3–4 Jahre Geldvorrat angebracht.
Resilienz für Investoren können auch Anlagen sein, welche nicht mit den Aktienmärkten korrelieren. Leider bieten sich hier Anleihen nicht mehr an; noch immer aber Edelmetalle oder illiquidere Nischenideen. Sinnvoll erscheint uns ein Resilienztest: Wie würde sich Ihr Portfolio in einer ähnlichen Baisse wie 2000–2003 entwickeln und wären Sie dann noch handlungsfähig?
Inflation und Gold als Schlüsselindikatoren
Wir halten an unserem Rat fest: Schwergewicht Aktien, ergänzt mit Edelmetallen und ausgewählten Nischenideen. Anleihen bleiben wenig reizvoll. Als Seismographen für die Entwicklung unseres Finanzsystems beobachten wir die beiden Schlüsselindikatoren Gold und Inflation. Der Goldpreis ist aufgrund der hohen Unsicherheit schon stark angestiegen. Die Markterwartungen für die künftige Inflation sind aber noch sehr tief. Für die USA erwarten die Finanzmärkte für die kommenden 30 Jahre nur 1.5 % Inflation pro Jahr. Sollten aber neben den Edelmetallpreisen auch die Inflationsprognosen steigen, dann erwarten wir eine starke Reaktion an den Aktienmärkten – weg von hoch bewerteten Wachstumsaktien, hin zu vernachlässigten Substanzwerten. Und natürlich wären langfristige Anleihen dann sogenannte «Enteignungspapiere».